Der 3. Juni 2023 stellt zweifelsohne einen wichtigen Einschnitt in der Geschichte der antifaschistischen Bewegung Ostdeutschlands dar. Auf einer Demo für die Versammlungsfreiheit in Leipzig wurden über 1.300 Menschen – darunter unzählige Unbeteiligte, Jugendliche und Kinder – teils bis zu 11 Stunden festgehalten. Einen gesicherten Zugang zu Nahrung, Wasser und Sanitäranlagen gab es in dem bislang größten Polizeikessel der BRD nicht. Eine Klage von FragDenStaat.de offenbart jetzt, dass die Daten von fast allen Betroffenen jetzt für fünf Jahre den deutschen Verfassungsschutzbehörden zugänglich sind: Eine Geschichte von Gewalt und Lügen.
Das erste Juni-Wochenende 2023 war ein Schlag ins Gesicht für all diejenigen, welche sich in einer Zeit des massiven Rechtsrucks konsequent gegen den erstarkenden Faschismus engagieren – aber auch für all diejenigen, welche sich noch um ihre Grundrechte sorgen. Nach einem von Ungereimtheiten durchzogenen Prozess gegen eine Gruppe von vier Antifaschist:innen, welche in Sachsen und Thüringen organisierte Neonazis angegriffen haben sollen (sog. Antifa-Ost-Prozess um Lina E.), gab es in Leipzig viele Anlässe zum demonstrieren. Dazu wurde schon weit im Vorhinein zu einer Demonstration am sogenannten „Tag X“ mobilisiert, dem ersten Samstag nach der Urteilsverkündung gegen Lina E. – dieser Tag sollte der 3. Juni 2023 werden.
Zum Hintergrund
Aus Angst vor Auseinandersetzungen verkündeten die Behörden eine Reihe von repressiven Maßnahmen, welche zum Teil große Angriffe auf unsere demokratischen Grundrechte darstellen. Das sächsische Innenministerium hat kurzerhand einer 48-stündigen Kontrollzone, die das ganze Leipziger Zentrum sowie weite Teile der Stadt umfasste, sttattgegeben. Mit der Unterstützung von Bundespolizei und Beamt:innen aus elf weiteren Bundesländern konnten Leipziger Polizist:innen damit faktisch an jeder möglichen zentrumsnahen Zufahrtsmöglichkeit Personen willkürlich kontrollieren und Platzverweise verteilen – was sie auch gut und gerne taten.
Darüber hinaus wurden an dem Wochenende alle Versammlungen, die thematisch auf den Antifa-Ost-Prozess Bezug nahmen untersagt, wenn sie nicht bis drei Tage vor dem „Tag X“ angemeldet wurden. Das stellt einen massiven Einschnitt in das Versammlungsrecht dar, da so thematisch passende Spontanversammlungen schon im Vorhinein gänzlich verboten wurden. Gleichzeitig fanden in Leipzig an diesem Samstag ein Stadtfest, ein 40.000-Gäste-Konzert von Herbert Grönemeyer, ein Public-Viewing des DFB-Pokalfinales und das sächsische Fußballpokalfinale statt – politischer Protest schien hier unerwünscht gewesen zu sein.
Die Demo am „Tag X“ war dann der Höhepunkt dieser theatralischen Aufführung der außer Rand und Band geratenen Repressionsbehörden: Ein vermummter Staatsanwalt im schwarzen Block, 4.000 Polizeibeamt:innen aus ganz Deutschland, 17 Wasserwerfer, ein Minderjähriger mit Gehirnerschütterung und ein elfstündiger Polizeikessel ungeheuren Ausmaßes. Die Eskalation war von der Polizei vorbestimmt – schon eine halbe Stunde bevor es erste Angriffe auf Beamt:innen gegeben haben soll, ordnet der zuständige Polizeiführer laut internen Dokumenten erstmals an, dass die Teilnehmer:innen der Veranstaltung „nicht unkontrolliert ablaufen dürfen“, die Polizist:innen sollten „keine Personen […] weglassen“.
Dazu kam es auch: Nach einer langen Nacht ohne vernünftige Nahrungsverpflegung, ohne Zugang zu Sanitäranlagen, aber dafür mit zahlreichen Knüppelschlägen und Schikanen durch die Polizei, wurden alle 1.324 Eingekesselten (die Polizei ging fälschlicherweise zunächst von 300 Personen aus) erkennungsdienstlich behandelt. Bis auf zwei Ausnahmen von strafunmündigen Kindern, wurden alle Teilnehmer:innen der Versammlung des schweren Landfriedensbruches bezichtigt, darunter auch unbeteiligte Anwohner:innen, etliche Jugendliche und tausende von Menschen, denen keine konkrete, individuelle Straftat nachgewiesen werden kann.
Der Verfassungsschutz lügt!
Bald eineinhalb Jahre nach diesen erschreckenden Ereignissen nimmt der staatliche Wahnsinn kein Ende. Nach einer Klage von FragDenStaat.de musste der Sächsische Verfassungsschutz nach „monatelangem Widerstand“ im September offenbaren, dass er die Daten aller in Sachsen wohnhaften Eingekesselten für die nächsten fünf Jahre in einem Archiv der deutschen Verfassungsschutzbehörden (gemeinsames Nachrichtendienstlichen Informationssystem (NADIS)) abgespeichert hat. Schließlich sei laut Geheimdienst ja nicht auszuschließen, dass die 589 Betroffenen „eine aktive sowie ziel- und zweckgerichtete Unterstützung der autonomen Szene und damit des Linksextremismus“ verfolgen.
Dass die Behörden eine derartige Pauschalisierung von Hunderten Menschen vollziehen und diese allesamt als „linksextremistisch“ abstempeln, ist Grund zur Aufregung genug. Doch damit nicht genug: Vor wenigen Tagen hat sich herausgestellt, dass der Sächsische Verfassungsschutz Falschinformationen verbreitet. So war nicht die Staatsanwaltschaft Leipzig für die Weitergabe der Daten zuständig, sondern das Bundeskriminalamt Sachsen.
Dazu kommt: Nicht nur die in Sachsen ansässigen Personen sind betroffen. Jetzt hat sich herausgestellt, dass die Daten aller (!) an dem 3. Juni 2023 eingekesselten Menschen an die deutschen Verfassungsschutzbehörden weitergegeben wurden und dort für fünf Jahre gespeichert sind. Die Daten von 123 Personen landeten überdies beim Bundesverfassungsschutz. Als Bündnis gegen das neue Versammlungsgesetz in Sachsen verurteilen wir diesen unverhältnismäßigen Angriff auf das Versammlungsrecht aufs Schärfste!
Gemeinsam gegen Datensammelwahn und Repression!
Die Botschaft, die die Behörden damit senden wollen, ist recht klar: Demonstrierende und besonders Antifaschist:innen sollen sich in Zukunft besser zweimal überlegen, ob und wie sie an einer Versammlung teilnehmen. Sonst könnte es im Job und privaten Umfeld zu Problemen kommen – im schlimmsten Fall steht dann mal die Polizei morgens in der Früh vor der Haustür und möchte die Wohnung durchschnüffeln.
Ob und wie gegen dieses geheimdienstliche Verfahren Klage eingelegt werden kann, ist bislang unklar. Über http://datenschmutz.de/auskunft ist es jedoch möglich, einen Antrag an den Verfassungsschutz zu stellen und so herausfinden, welche der eigenen Daten gespeichert worden sind – wobei es auch hier dazu kommen könnte, dass der Geheimdienst einen Grund für die Abfrage hören möchte.
Weiterhin sollte jedoch gelten, dass wir gemeinsamen Protest gegen die Angriffe auf unser Versammlungsrecht organisieren müssen – besonders in Zeiten, in welchen faschistische Kräfte an Aufschwung gewinnen und der Staat und die Länder autoritärer und militarisierter auftreten. Diese willkürlichen Fälle des Datensammelwahns dürfen wir nicht unbeantwortet lassen, spätestens wenn es erneut zu Hausdurchsuchungen im Kontext des Leipziger Kessels kommt. Gegen ihre Repression, für unser Versammlungsrecht!